»Blue Skies« von T.C. Boyle: Freundlich geht die Welt zugrunde (2024)

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»Blue Skies« von T.C. Boyle: Freundlich geht die Welt zugrunde (1)

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Je länger man mit T. C. Boyle über Tiere spricht, Hunde, Katzen, Erdhörnchen oder Zecken, desto mehr erinnert er an Doctor Snuggles. Wie die niederländisch-­britische Zeichentrickfigur ist T. C. Boyle ein »Freund von allem, was lebt«. Wie Doctor Snuggles ist auch T. C. Boyle ein unermüdlicher Erfinder, wenn auch von Geschichten. Und wie Snuggles wohnt Boyle in einer Natur, die er als beseelt empfindet – und die ihn beseelt. Der US-Schriftsteller ist nur nicht ganz so optimistisch wie sein fiktiver Vetter.

Boyle, 74, lebt in seinem eigenen Wäldchen in Montecito bei Santa Barbara, Kalifornien. »Morgens dreht meine Frau die Heizung auf. Dann drehe ich sie wieder runter, setze mich im Anorak an den Schreibtisch und arbeite. Schau dir das an!«, sagt er und dreht die Kamera so, dass man aus den deckenhohen Fenstern nur noch Bäume sieht, wilde Wiese, kaum Rasen.

Aus: DER SPIEGEL 20/2023
»Blue Skies« von T.C. Boyle: Freundlich geht die Welt zugrunde (2)

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Liebesfilm im eigenen Garten

Allein auf diesem Grundstück, nicht größer als anderthalb Hektar, ereignen sich alle möglichen Geschichten aus allen nur denkbaren Genres. Der Horrorfilm, als Ratten sich im denkmalgeschützten Holzhaus eingenistet hatten. Die Detektivserie, wenn Boyle regelmäßig die Samen und Triebe invasiver Pflanzen aufsammelt und entsorgt. Der Katastrophenfilm, wenn er bei einem Waldbrand mal wieder mit dem Wasserschlauch auf dem Dach steht. Und der Liebesfilm, als die ausgebliebenen Schmetterlinge neulich dann doch zurückgekehrt sind: »Ein kleinerer Schwarm an Monarchfaltern als üblich, aber immerhin ein Schwarm«, wie er erleichtert feststellt.

Für sein nach eigener Zählung »inzwischen 31. Buch« brauchte der Schriftsteller im Grunde also kaum das Haus zu verlassen. »Blue Skies«* vereint, was nicht nur Boyle selbst erlebt hat – sondern der Menschheit bevorsteht. Hier endet die Zivilisation nicht mit einem Knall. Sie fällt einfach in sich zusammen wie ein löchriger Heißluftballon, und wir alle sitzen in der Gondel.

»Blue Skies« von T.C. Boyle: Freundlich geht die Welt zugrunde (3)

Der Form, die sich dafür anbieten würde, hat er sich geschickt verweigert. »Blue Skies« ist keine herkömmliche Dystopie, vielmehr eine Familiengeschichte im Stil von Jonathan Franzen. Boyle erzählt von gewöhnlichen Leuten, deren gewöhnliches Leben ganz beiläufig apokalyptische Züge annimmt. Oder, wie Annie Proulx urteilte: »Ein schwarzer Pfeil unvorstellbaren Grauens schießt mitten durch den Roman.«

Gutwillige Familie in verschärften Umständen

Denn das Personal dieses Romans dieselt keineswegs mit Scheuklappen in den Untergang oder wartet im Luxusbunker auf das Ende. Es ist eine gutwillige Familie, die sich mit verschärften Umständen zu arrangieren sucht: »Ein Teil lebt in Kalifornien und hat dort mit Trockenheit und Waldbränden zu tun. Der andere Teil lebt in Florida und ist vom steigenden Meeresspiegel bedroht«, schildert Boyle: »Und wie wirkt sich die Klimakrise auf eine Hochzeit aus? Was hat es mit Krankheiten auf sich, die von Zecken übertragen werden? Welche Folgen hat das Aussterben von Fluginsekten auf die Nahrungsketten und die Weltbevölkerung?«

Cat, die Tochter, ist ein wenig hohl und von sozialen Netzwerken besessen. Aus einer Laune heraus kauft sie sich eine Würgeschlange – als lebendiges Schmuckstück, das sie sich um den Hals legen kann. Ihr Bruder Cooper ist Entomologe, tief besorgt über das Artensterben und dessen Folgen für Mensch und Tier: »Der Planet stirbt, siehst du das nicht?«, fragt er seine Mutter Ottilie. Die ist eine einsichtige Frau, will alles richtig machen. Und hat sich artig einen Brutapparat für Grillen angeschafft, um künftig nur noch Insekten zu verzehren.

Aber schon eine einfache Party zum Ruhestand ihres Gatten stellt Ottilie vor Probleme: »Veranstaltete man überhaupt noch Abendgesellschaften? Wozu eigentlich? Die eine Hälfte der Welt stand unter Wasser, die andere war ausgedörrt, und es gab eine Missernte nach der anderen. Menschen hungerten, sogar hier in Kalifornien. Überall waren Flüchtlinge. Der Wein schmeckte nach Asche.« Im Supermarkt gibt es dafür Sake, das neue Trendgetränk, »allerdings erwähnte niemand, wie intensiv Reis bewässert werden musste«.

Es gibt kein Entrinnen

Und doch wird geliebt und gestritten, geboren und gestorben. Auch wird viel getrunken in diesem Buch. Aus Durst wegen der Hitze. Aber auch, um mit Alkohol die düsteren Entwicklungen ein wenig aufzuhellen. Gegen die Hitzewellen hilft die Klimatechnik, was aber den Energieverbrauch erhöht. Es gibt kein Entrinnen: »Aus gelegentlichen Engpässen wurden scheinbar regelmäßige großflächige Stromausfälle, was wiederum Lebensmittel verderben ließ und dafür sorgte, dass der Kühlschrank sich nie auf die eingestellte Temperatur hinunterkühlen konnte, weswegen man öfter zum Supermarkt fahren und Treibstoff verbrennen musste und somit den ganzen Kreislauf in Gang hielt.«

»Die Literatur hat mir das Leben gerettet.«

T.C. Boyle

In gewisser Weise, räumt Boyle ein, habe er ein solches Buch bereits 2000 veröffentlicht. »Ein Freund der Erde«, sein einziger Science-Fiction-Roman, spielt im Jahr 2025 und verhandelt die gleichen Themen: »Der Verlust der Wälder und der Biodiversität, Klimakrise, die sozialen und politischen Folgen dieser Entwicklung – das alles hat uns viel schneller erreicht, als ich damals dachte.« Diesmal habe er untersuchen wollen, wie sich die Folgen der Erderwärmung auf eine normale US-Familie auswirkten. Und wie sich das wohl anfühlt, wenn sich winzige Widrigkeiten zur Katastrophe aufschaukeln.

Den Einwand, an Schauplätzen wie Kalifornien und Florida ein tendenziell elitäres Milieu schildern zu können, lässt er nicht gelten. Er hätte auch über den Mittleren Westen schreiben können, wo er fünf Jahre lang gelebt hat. Die Gegend habe »das fürchterlichste Wetter, das man sich überhaupt vorstellen kann. Sehr heiß im Sommer und sehr kalt im Winter, aber ohne die Gnade von Schnee. Nur starker Wind, der Dreck über gefrorene Hundehaufen weht«.

Rockstar der zeitgenössischen US-Literatur

Seine Einstellung zur Natur ist so ambivalent wie die Haltung zu seiner Heimat. Er liebt beides, gibt sich aber keinen Illusionen hin. Die Gegenkultur, der er als Sohn alkoholsüchtiger Eltern und ehemaliger Junkie entstammt, war oft Gegenstand seiner Literatur. Er gilt als Rockstar der zeitgenössischen US-Literatur, was auch am Aussehen liegen könnte. Chucks an den Füßen, Totenkopfring am Finger, Mütze auf dem drahtigen Haar.

So stellt man sich eher den gealterten Bassisten einer Band auf Abschiedstournee vor, nicht Schriftsteller: »Die Literatur hat mir das Leben gerettet«, sagt Boyle, »die Literatur und die Natur.« Er sei bei jeder Gelegenheit oben in den Bergen zum Wandern und »jeden Tag unten am Strand, allein, einfach als Geschöpf unter Geschöpfen«, das sich an der bloßen Existenz der Welt erfreut. Es könnte sein, dass er ein verkappter Hippie ist.

Im Gespräch umgibt ihn die allürenfreie Nonchalance des gealterten, aller Geldsorgen enthobenen Edelpunks. Aufhebens macht er weder um seine Arbeit noch um sich selbst. Seine Biografie kann er in zwei Sätzen zusammenfassen: »Aufgewachsen bin ich in New York und war nie westlicher als der Hudson River, bis ich nach Iowa auf die Universität ging. Ich lebte fünfeinhalb Jahre im Mittleren Westen, bevor meine Frau und ich nach Kalifornien zogen, weil mir dort eine Univer­sität einen Job gab. Das ist meine ganze Lebensgeschichte.«

Die Systemfrage stellen? Was würde das bringen?

Seinen speziellen Status als Außenseiter der Branche aber hat er sich hart erarbeitet. »Disziplin ist alles«, sagt er über das Schreiben. Nicht das Talent, nicht die Vision, nicht die Mission. Disziplin. Mit dieser eher bürgerlichen Tugend schrieb er in »Grün ist die Hoffnung« (1984) über Hippies, die Cannabis anbauen, in »Drop City« (2003) über eine romantische Kommune, die es ins harte Alaska verschlägt. »Die Terranauten« (2016) war vom Experiment der »Biosphäre 2« inspiriert, dem wissenschaftlichen Versuch, ein autarkes Ökosystem zu schaffen.

Gern näherte er sich in seinen Fiktionen auch den Biografien berühmter Charaktere, die allesamt Unverstandene waren. So beschäftigte er sich mit dem Sexualforscher Alfred Kinsey (»Dr. Sex«), dem Arzt und Frühstücksflockenerfinder John Harvey Kellogg (»Willkommen in Wellville«), dem LSD-Propheten Timothy Leary (»Das Licht«) oder dem Architekten seines Hauses in Montecito, Frank Lloyd Wright (»Die Frauen«).

»Wir sind als Spezies erledigt, meiner Meinung nach.«

T.C. Boyle

Politisch steht Boyle insofern links, als er mit den Demokraten sympathisiert und die kapitalistische Ausbeutung begrenzter Ressourcen als Problem erkennt. Die Systemfrage stellt sich im Roman aber an keiner einzigen Stelle: »Was würde das bringen? Wen würde das überzeugen? Ich kann über die Lage nur meditieren, keine Lösungen anbieten. Das ist auch nicht meine Aufgabe als Künstler. Meine Aufgabe ist es, ein Szenario zu entwerfen. Welche Schlüsse eine Leserin oder ein Leser daraus zieht, bleibt ihr oder ihm überlassen.«

Wobei er die Bedeutung seiner Worte durchaus auf die politische Waage legt. Was wir heute verharmlosend »Klimawandel« nennen, das sei 2000 noch die »Erderwärmung« gewesen. Bisweilen sei auch im Englischen schon von »Klimakrise« die Rede: »Wir nennen es aber noch nicht beim Namen, Klimakatastrophe, weil das zu abschreckend sein könnte für jene, die diese Botschaft am dringendsten hören sollten.«

Kunst mit Meinung wird Propaganda

Aus seinem Pessimismus macht er keinen Hehl: »Wir sind als Spezies erledigt, meiner Meinung nach. Was kann der Einzelne tun? Das scheint mir doch etwas hoffnungslos. Aber allein die Tatsache, in eine Gesellschaft wie der unseren hineingeboren zu sein, zerstört die Erde. Einfach, weil wir da sind. Weil wir essen, was wir essen. Energie verbrauchen. Auto fahren. Heizen.«

Tiefen Eindruck hat auf ihn die »Krefelder Studie« gemacht, in der ehrenamtliche Mitarbeiter des Entomologischen Vereins Krefeld in einer Langzeituntersuchung von 1989 bis 2016 einen Rückgang der flugfähigen Insekten um bis zu 82 Prozent nachgewiesen haben. Einem solchen Forscher ist die Figur des Cooper nachempfunden, und ein solches Ergebnis kann Boyle in seinem eigenen Wäldchen beobachten. Vor 30 Jahren seien die Monarchfalter noch »wie Konfetti« zur Überwinterung eingeflogen: »Und dann waren die Massen bis auf ein paar vereinzelte Exemplare plötzlich verschwunden.«

Als Professor für Literatur an der University of Southern California ist er inzwischen emeritiert. »Gott sei Dank«, wie er sagt. Nun habe er mehr Zeit für seine Recherchen, sagt er, etwa mit Biologen bei der Feldforschung: »Sie haben mir gesagt, wie frustrierend es für sie als Wissenschaftler ist, dass niemand ihre Warnungen zur Kenntnis nimmt. Wenn ich einen Roman schreibe, ist das anders. Weil Kunst in der Lage ist, die Menschen auf emotionaler Ebene zu berühren. Sie verkündet nichts, hat aber interaktive Qualitäten. Leser lassen sich ein, identifizieren sich mit den Figuren. Sobald ich eine Meinung forciere, wird es Propaganda – und hört auf, Kunst zu sein.«

Tatsächlich ist »Blue Skies« kein Leitartikel auf 400 Seiten, kein grünes Thesenpapier, keine Relevanzliteratur. Dazu ist Boyle zu clever. Er winkt nicht mit dem Zaunpfahl. Er lehnt lässig dagegen und fragt, was dieses seltsame Ding wohl sein könnte. Ein Zaunpfahl?

Deshalb ist dieses Buch kein Ökothriller im klassischen Sinne, weder Krimi um dunkle Machenschaften noch große Oper wie »Der Schwarm« von Frank Schätzing. Es steht am Ende einer Entwicklung, die mit »Moby-Dick« (1851) von Herman Melville begonnen hat. Bei Melville war der Wal noch Metapher, der Raubbau an der Natur eine Ahnung. Bei Boyle ist alles Tatsache und Gewissheit.

Daraus bezieht »Blue Skies« seine Spannung. Und eine Dringlichkeit, die Boyle auch in den Aktionen der »Letzten Generation« erkennt. »Ökoterroristen«, wie er die Aktivisten ganz unbeschwert nennt, seien auch schon in »Ein Freund der Erde« vorgekommen: »Sie arbeiteten aber im Untergrund, wo sie gewisse Projekte sabotierten. Ich nannte es nicht Sabotage, sondern Ecotage.« Er sympathisiert damit, sich auf der Straße festzukleben oder Kunstwerke zu beschmieren: »Im Grunde braucht es aber Katastrophen, um uns weltweit zum Umdenken zu bewegen. Das wird aber auch nicht passieren, weil uns einfach die Zeit davonläuft.«

Trotz allem versöhnlich

Seine Liebe zu allem, was lebt, möchte Doctor Snuggles alias T. C. Boyle im Gespräch dann doch noch einschränken. Zecken, sagt er, hätten seine Sympathie verspielt: »Früher habe ich immer gesagt, die sind wie wir, die wollen auch nur leben und sich fortpflanzen. Leider übertragen sie dabei immer mehr und immer gefährlichere Krankheiten, wie ich am eigenen Leib habe feststellen müssen.«

Im Roman spielt denn auch ein Zeckenbiss eine Rolle. Er betrifft Cooper, den engagierten Entomologen, und nimmt die denkbar fatalste Wendung. Aber auch dieser Mensch tut, was wir Menschen eben so tun. Er arrangiert sich notgedrungen mit den Folgen. Und ist so eine mechanische Prothese nicht ein Wunderwerk der Technik?

Seine Erzählung lässt Boyle wider Erwarten auf einer leisen, aber hoffnungsvollen Note enden. Es fühlt sich nicht an wie Schummelei. Aber doch so, als hätte man diesen Lichtblick nicht verdient.

Auch diese Wendung ist von der Wirklichkeit in seinem Wäldchen inspiriert. Die Monarchfalter sind wieder zurückgekehrt. Und T. C. Boyle will, dass das so bleibt: »Deshalb habe ich Wolfsmilch gepflanzt. Schmetterlinge lieben diese Staude!« Vielleicht, sagt er, haben wir als Spezies den Tiefpunkt schon erreicht, vielleicht gehe es nun wieder aufwärts. Einerseits. Andererseits ist »der Lebenszyklus eines einzelnen Menschen so unglaublich kurz. Was kann er schon tun?«.

Stauden pflanzen, immerhin das.

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